1. Frieden und Krieg: Frankreich und Russland 1807—1814
Der gescheiterte Feldzug Napoleons gegen Russland im Jahr 1812 ist bis zum heutigen Tag fest im kollektiven Ged?chtnis Europas verankert. Die fast vollst?ndige Vernichtung der franz?sischen Grande Arm?e, die zu Kriegsbeginn etwa 600.000 Mann gez?hlt hatte, gilt weithin als die gr??te milit?rische Katastrophe der Neuzeit vor den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Das hohe ?ffentliche Interesse, das nach wie vor am franz?sisch-russischen Krieg von 1812 besteht, fand im Gedenkjahr 2012 in verschiedenen L?ndern, insbesondere in Russland, in zahlreichen Ausstellungsaktivit?ten, Symposien, Vortragsveranstaltungen sowie in einer breiten Medienberichterstattung seinen Ausdruck.{76}
Vor allem zwei Faktoren d?rften f?r die enorme Bedeutung des Russlandfeldzugs Napoleons in der europ?ischen Erinnerungskultur Ausschlag gebend sein. Zum einen die politischen Folgen des Krieges. Aus der R?ckschau betrachtet, markierte die Niederlage des franz?sischen Kaisers in Russland einen Wendepunkt in der europ?ischen Geschichte des fr?hen 19. Jahrhunderts. Die Herrschaft Napoleons ?ber weite Teile West-, Mittelund S?deuropas wurde durch die Ereignisse des Jahres 1812 grundlegend ersch?ttert. Gut ein Jahr nach dem Ende des russischen Feldzugs existierte das Premier Empire nicht mehr. Zum anderen war es der dramatische Verlauf des franz?sisch-russischen Krieges, der das Interesse an diesem milit?rischen Konflikt auch nach zwei Jahrhunderten noch weckt. Ereignisse wie die Feldschlacht bei Borodino, die Zehntausende das Leben kostete, vor allem aber der Brand Moskaus und der R?ckzug der Grande Arm?e aus Russland bei Eis und Schnee verleihen dem Krieg von 1812 eine Bedeutung, die ?ber das historische Geschehen hinausweist. Der Feldzug Napoleons erlangte in den vergangenen zwei Jahrhunderten eine symbolische Bedeutung f?r die Grausamkeit des Krieges an sich.
Die Vorgeschichte des franz?sisch-russischen Konflikts von 1812 reicht bis in die 1790er-Jahre zur?ck.{77} Von 1795 bis 1807 hatten sich Zarin Katharina die Gro?e sowie ihre Nachfolger, die Zaren Paul I. und Alexander I., regelm??ig und erfolglos an den B?ndnissen gegen das revolution?re bzw. napoleonische Frankreich beteiligt. Nach der Niederlage der von Preu?en und Russland getragenen Vierten Koalition vollzog die russische Politik im Sommer 1807 eine Wende. Napoleon und Alexander schlossen im Juli 1807 in Tilsit am Niemen (dt.: Memel) ein Friedensabkommen, das gleichzeitig einen Allianzvertrag darstellte. Alexander akzeptierte die von Napoleon zum Teil bereits realisierte, zum Teil noch beabsichtigte territoriale Neuordnung West-, Mittel- und S?deuropas. Diese Reorganisation zielte auf eine franz?sische Hegemonie ?ber Italien, ?ber die Schweiz, ?ber die deutschen Staaten des Rheinbundes, ?ber die Niederlande sowie ?ber Ostmitteleuropa (Preu?en, Polen) ab. Alexander verpflichtete sich zudem zum Anschluss an das franz?sische Handelsembargo gegen Gro?britannien, die sogenannte Kontinentalsperre. Russland und Frankreich versprachen sich daneben wechselseitige Unterst?tzung im Kriegsfall und steckten Interessensph?ren in Nordeuropa und — in allerdings unzureichender Weise — auch auf dem Balkan ab. Beispielsweise gestattete Napoleon Russland die Eroberung Finnlands, die 1808/09 erfolgte.
Die in Tilsit geschlossene Allianz zwischen den Kaiserreichen Frankreich und Russland war von Beginn an fragil. Hierf?r waren vor allem langfristige politische Interessengegens?tze zwischen den B?ndnispartnern verantwortlich. Drei grundlegende Konfliktlinien lassen sich identifizieren. Erstens verk?rperten das aus dem revolution?ren Frankreich hervorgegangene Kaiserreich Napoleons und das dem Ancien R?gime verhaftete Russland vollkommen verschiedene Herrschafts- und Gesellschaftsmodelle. Zweitens bestanden zwischen Frankreich und Russland starke geopolitische Gegens?tze. Die beiden Imperien rivalisierten vor allem im ?stlichen Mitteleuropa (Polen, Preu?en), aber auch auf dem Balkan und in Skandinavien. Drittens entsprach der erzwungene Anschluss an das Kontinentalsystem Napoleons nicht den wirtschaftlichen Interessen des Zarenreiches.
Au?er durch politische Gegens?tze war die in Tilsit geschlossene Allianz durch die konkreten Umst?nde ihrer Entstehung belastet. Der Kriegsverlierer Alexander musste im Sommer 1807 aus einer Position der Schw?che heraus verhandeln. Es kam aufgrund dieser Ausgangskonstellation zu keinem auf beiden Seiten gleicherma?en akzeptierten Ausgleich der Interessen. Der milit?rische Sieger Napoleon setzte vielmehr eine franz?sische Suprematie im B?ndnis voraus. Er versuchte in den Jahren nach 1807 wiederholt, diese Vorrangstellung zur Geltung zu bringen und Russland zum Erf?llungsgehilfen seiner Politik zu machen. Nicht nur politisch, sondern auch pers?nlich betrachtete der Empereur seinen B?ndnispartner Alexander als nicht ebenb?rtig. Diese Einsch?tzung war deshalb ?u?erst problematisch, weil sich die realen Machtverh?ltnisse nach 1807 zugunsten Russlands verschoben.
Die zahlreichen Konfliktherde in der imperialen Allianz zwischen Frankreich und Russland wurden in den Jahren nach 1807 sukzessive virulent. Das B?ndnis war einem Erosionsprozess ausgesetzt, der sich ?ber Jahre hinzog und der schlie?lich in offene Feindschaft einm?ndete. Die franz?sisch-russischen Beziehungen zwischen 1807 und dem Ausbruch des Krieges im Fr?hjahr 1812 lassen sich in drei Phasen untergliedern. In den Jahren 1807 bis 1809 kooperierten die beiden Imperien, wenngleich die Schwierigkeiten im B?ndnis bereits un?bersehbar waren. Napoleon ordnete auf der Grundlage der Tilsiter Vertr?ge den mitteleurop?ischen Raum neu. Alexander f?hrte siegreich Krieg gegen Schweden und gliederte anschlie?end Finnland in sein Imperium ein. Ein ernster Konflikt entspann sich jedoch aufgrund der franz?sischen Kompensationsforderungen f?r die von Alexander geplante Annexion der osmanischen Provinzen Moldau und Walachei. Bei einem glanzvollen Treffen zwischen Napoleon und Alexander in Erfurt im September und Oktober 1808 war der Vertrauensbruch im B?ndnis bereits offenkundig. In den Jahren 1809/10 kam es zum Bruch der Allianz. Hierf?r waren mehrere Entwicklungen verantwortlich, die sich wechselseitig bedingten. Russland unterst?tzte Frankreich im Krieg gegen ?sterreich nur symbolisch, konspirierte unter der Hand sogar mit dem Gegner Napoleons. Der franz?sische Kaiser reagierte, in dem er seinem B?ndnispartner im Frieden von Sch?nbrunn nur einen kleinen Teil der von der Habsburgermonarchie abgetrennten galizischen Gebiete zusprach. Hingegen wurde das unter franz?sischem Einfluss stehende, von Russland stets kritisch be?ugte Herzogtum Warschau gro?z?gig bedacht. Diese Ereignisse trugen wiederum dazu bei, dass Alexander das Ansinnen Napoleons zur?ckwies, die russische Gro?f?rstin Anna zu ehelichen. Der franz?sische Kaiser heiratete daraufhin die ?sterreichische Erzherzogin Marie-Louise. Obwohl die franz?sisch-russische Allianz durch die geschilderten Ereignisse Anfang 1810 weitgehend ausgeh?hlt war, bestand das Tilsiter B?ndnis formal bis 1812 weiter. In den letzten beiden Jahren vor Kriegsbeginn war das Verh?ltnis zwischen Frankreich und Russland durch zahlreiche konkrete politische Probleme massiv belastet. Dissens bestand vor allem ?ber die Balkanpolitik Napoleons nach dem Frieden von Sch?nbrunn, die Wahl des franz?sischen Marschalls Jean-Baptiste Bernadotte zum Kronprinzen von Schweden (Mai 1810), die zuk?nftige Rolle des Herzogtums Warschau sowie die faktische Wiederaufnahme des Handels mit Gro?britannien durch Russland (31. Dezember 1810). F?r erhebliche Verstimmung sorgte zudem die Annexion des Herzogtums Oldenburg durch Frankreich Anfang 1811. Durch die Ausweitung des Empire nach Norddeutschland verlor der Ehemann Gro?f?rstin Katharinas, Herzog Peter von Oldenburg, seine Besitzungen; er emigrierte nach Russland.
Die zunehmende Entfremdung der B?ndnispartner von Tilsit bewirkte, dass ein franz?sisch-russischer Krieg sowohl in Paris als auch in Sankt Petersburg zunehmend als unausweichlich angesehen wurde. Die Jahre 1810 bis 1812 standen bereits im Zeichen der Kriegsplanung und R?stung der nominell noch verb?ndeten Imperien. 1811 geriet Europa erstmals an den Rand des Krieges, als Alexander einen Pr?ventivschlag gegen das Herzogtum Warschau erwog. Der milit?rische Konflikt brach schlie?lich ein Jahr sp?ter aus: Napoleon marschierte ab Juni 1812 an der Spitze einer etwa 600.000 Mann starken, von Soldaten aus weiten Teilen Europas gebildeten Grande Arm?e in Russland ein. Der damit ausgel?ste Krieg sollte bis zum Fr?hjahr 1814 dauern.{78}
Der Verlauf des Feldzugs von 1812 war zun?chst ma?geblich dadurch gekennzeichnet, dass die Armee Alexanders einer offenen Feldschlacht auswich und sich ins Innere des Zarenreiches zur?ckzog. Die franz?sischen Streitkr?fte hatten in den Sommermonaten aufgrund von ung?nstiger Witterung, Versorgungsschwierigkeiten und dadurch bedingten Krankheiten hohe Verluste zu verzeichnen. Napoleon setzte dem zur?ckweichenden russischen Heer nach und errang schlie?lich in den Schlachten bei Smolensk (17./18. August) und Borodino (7. September) milit?rische Siege. Diese Erfolge vermochten den Krieg jedoch nicht zu entscheiden. Nach dem Eintreffen der bereits erheblich dezimierten Grande Arm?e in Moskau Mitte September ging die ehemalige Hauptstadt des Zarenreiches — wohl vor allem durch russische Brandstiftung — in Flammen auf; ihre Geb?udesubstanz wurde zu etwa 70 Prozent zerst?rt. Da Friedensverhandlungen Napoleons mit Alexander scheiterten und Moskau nicht gehalten werden konnte, trat die franz?sische Armee am 19. Oktober den R?ckzug an. Dieser geriet zur Katastrophe: Nahrungsmittelmangel, der Einbruch des Winters Anfang November, Krankheiten und Ersch?pfung sowie Angriffe durch Teilverb?nde des russischen Heeres f?hrten zu einem kontinuierlichen Verlust an Kampfkraft und schlie?lich zur weitgehenden Aufl?sung der franz?sischen Formationen. Die besetzten Gebiete in Russland mussten sukzessive preisgegeben werden. In Wei?russland drohte vor dem ?bergang ?ber die Beresina zeitweilig sogar eine Einkesselung und v?llige Vernichtung der verbliebenen Truppenk?rper. Diese konnte zwar vermieden werden, doch erreichten ab Mitte Dezember nur schwache franz?sische Verb?nde die Sammelpl?tze in Ostpreu?en und im Herzogtum Warschau. Die Bilanz des ersten Kriegsjahres war f?r Frankreich desastr?s: Von den 550.000 bis 600.000 Soldaten des napoleonischen Heeres, die in dem halben Jahr von Juni bis Dezember 1812 jenseits des Niemen eingesetzt gewesen waren, hatten etwa 400.000 entweder den Tod gefunden oder waren in Kriegsgefangenschaft geraten. Der Blutzoll, den das siegreiche Zarenreich Alexanders im ersten Kriegsjahr entrichtete, war ?hnlich hoch: Auf der russischen Seite ist ebenfalls von etwa 400.000 toten Soldaten und Milizion?ren auszugehen. Hinzu kam die Verw?stung weiter Landstriche, die zum Durchzugsgebiet der feindlichen Armeen geworden waren.
Im zweiten Kriegsjahr 1813 wurde Mitteleuropa zum Kriegsschauplatz. Napoleon gelang es nach der Niederlage in Russland, rasch eine neue Armee aufzustellen. Zar Alexander konnte nach dem milit?rischen Erfolg des Jahres 1812 B?ndnispartner gewinnen: Im Februar 1813 trat zun?chst Preu?en auf die russische Seite, im Verlauf der Sommermonate verst?rkten Gro?britannien, Schweden und ?sterreich die antinapoleonische Allianz. Die Kampfhandlungen, deren Brennpunkte vor allem in Sachsen und in Schlesien lagen, lassen sich in zwei Phasen einteilen. Im Fr?hjahrsfeldzug siegte Napoleons Heer bei L?tzen/ Gro?g?rschen (2. Mai) und Bautzen (20./21. Mai). Allerdings gelang dem franz?sischen Kaiser wiederum kein Sieg, der den Krieg entschied. Nach einem ?ber zweimonatigen Waffenstillstand vom 4. Juni bis zum 10. August zeigte sich, dass sich die relative St?rke der Kriegsparteien ver?ndert hatte. Im Herbstfeldzug errang Napoleon zwar in der Schlacht um Dresden (26./27. August) einen Sieg, doch unterlagen in den folgenden Wochen mehrfach detachierte franz?sische Verb?nde den alliierten Truppen. Die Entscheidung ?ber die Kontrolle Mitteleuropas fiel schlie?lich in der V?lkerschlacht bei Leipzig (16.—19. Oktober), die Napoleon mit einer zahlenm??ig unterlegenen Armee verlor. Die franz?sische Herrschaftsordnung in den deutschen L?ndern brach im Anschluss an diese Schlacht rasch zusammen, die Reste der Grande Arm?e zogen sich nach Frankreich zur?ck.
In den Wochen um den Jahreswechsel 1813/1814 gab es mehrere diplomatische Initiativen zur Beendigung des Krieges, die jedoch zu keinen greifbaren Ergebnissen f?hrten. Besonders Russland und Preu?en, die auf einen Sturz Napoleons abzielten, waren an einem Friedensschluss vor einem endg?ltigen milit?rischen Triumph nicht interessiert. Napoleon gelang es nach der Niederlage bei Leipzig im Unterschied zum Vorjahr nicht mehr, eine schlagkr?ftige Armee aufzustellen. Zum Hauptkriegsschauplatz wurde in den ersten Monaten des Jahres 1814 der Norden und Osten Frankreichs. Die franz?sischen Truppen leisteten unter der im Kriegsjahr 1814 zum Teil brillanten F?hrung Napoleons zwar einige Wochen erfolgreich Widerstand, konnten die Niederlage aber nicht abwenden. Nach der Schlacht bei Arcis-sur-Aube (20. M?rz) war der Weg f?r die Alliierten nach Paris frei. Am 31. M?rz zogen Zar Alexander von Russland, K?nig Friedrich Wilhelm III. von Preu?en und der ?sterreichische Oberbefehlshaber Karl Philipp F?rst zu Schwarzenberg an der Spitze ihrer Truppen in Paris ein. Napoleon dankte wenige Tage sp?ter ab.
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