4. Selbstzeugnisse württembergischer Kriegsteilnehmer
Aus dem fr?hen 19. Jahrhundert ist eine deutlich gr??ere Zahl an soldatischen Selbstzeugnissen (v. a. Briefe, Tageb?cher, Erinnerungen) ?berliefert als aus fr?heren Epochen der europ?ischen Geschichte.{90} Dies hat viele Gr?nde.{91} Ein wichtiger Faktor war, dass durch die lange Dauer der franz?sischen Revolutionskriege und der napoleonischen Kriege die Zahl der Milit?rangeh?rigen stark angestiegen war. Daneben spielte eine Rolle, dass sich in vielen Staaten in der Zeit um 1800 die soziale Zusammensetzung der Heere ver?ndert hatte. Die Einf?hrung der „lev?e en masse“ in Frankreich im Jahr 1793 und die Verbreitung der Konskription in den franz?sisch dominierten Teilen Europas bedingten, dass in gr??erer Zahl B?rgerliche Milit?rdienst leisteten. Viele von diesen neigten — nicht zuletzt aufgrund ihres zum Teil exzellenten Bildungshintergrunds — dazu, ihre Soldatenzeit sowie die Kriegsereignisse, an denen sie teilnahmen, intensiv zu reflektieren.
Die soldatischen Selbstzeugnisse des fr?hen 19. Jahrhunderts k?nnen in zwei Gruppen geschieden werden: die zeitgen?ssischen Dokumente und diejenigen, die erst nach den Kriegsereignissen, in der Regel nach dem Ende der napoleonischen Epoche, entstanden sind. Die Zahl der zeitgen?ssischen Aufzeichnungen ist insgesamt geringer als die Zahl der sp?ter angefertigten Texte. Die autobiografischen Dokumente von Milit?rangeh?rigen sind wie alle Selbstzeugnisse als „Ich-Konstruktionen“ (Rutz) zu verstehen.{92} Pers?nliche Kriegserfahrungen sind in diesen Quellen in medial vermittelter Form greifbar.{93} Die wissenschaftliche Auswertung der Selbstzeugnisse von Soldaten, die an den Kriegen um 1800 teilgenommen haben, wirft zum Teil gravierende methodische Probleme auf. Dies gilt besonders f?r diejenigen Dokumente, die l?ngere Zeit nach den geschilderten Geschehnissen entstanden sind. Bei diesen Aufzeichnungen kam es h?ufig zu Umdeutungen von Kriegserfahrungen durch den jeweiligen Verfasser. Wissenschaftliche Editionen von Erinnerungswerken sowie quellenkundliche Analysen liegen nur in sehr geringer Zahl vor.{94}
Auffallend viele soldatische Selbstzeugnisse, welche die Zeit der Revolutionskriege oder der napoleonischen Kriege zum Gegenstand haben, beziehen sich ausschlie?lich oder zum Teil auf den franz?sischen Feldzug gegen Russland im Jahr 1812.{95} Bei diesen Dokumenten handelt es sich ebenfalls mehrheitlich um Werke, die nach 1815 entstanden sind. Zu den Selbstzeugnissen zum Russlandfeldzug Napoleons z?hlen neben textlichen Kriegserinnerungen auch Zeichnungen und Gem?lde, welche die kriegerischen Ereignisse vergegenw?rtigen. Zahlreiche autobiografische Dokumente, vor allem Kriegsmemoiren, wurden im Verlauf der vergangenen zwei Jahrhunderte ganz oder in Teilen ver?ffentlicht. Doch befinden sich immer noch unpublizierte Aufzeichnungen in Archiven, in Bibliotheken oder im privaten Besitz.
Unter den Selbstzeugnissen deutscher Soldaten und Offiziere, die im Jahr 1812 in Napoleons Grande Arm?e Dienst leisteten, nehmen die Erinnerungswerke von W?rttembergern eine wichtige Rolle ein.{96} Eine herausragende Bedeutung f?r die visuelle Vergegenw?rtigung des Feldzugs gegen das Zarenreich erlangten die Aquarelle und Zeichnungen von Christian Wilhelm von Faber du Faur (1780—1857).{97} Diese bildlichen Darstellungen wurden weltweit rezipiert und sind in nahezu allen Publikationen ?ber die franz?sische Invasion nach Russland wiedergegeben. Daneben haben aber auch zahlreiche Kriegserinnerungen schw?bischer Milit?rangeh?riger die Aufmerksamkeit der nationalen und internationalen Forschung auf sich gezogen. Zu nennen sind insbesondere die Memoiren von Christian von Martens, Heinrich von Roos, Karl von Suckow und Jakob Walter. Ausz?ge aus diesen Werken fanden Eingang sowohl in Quellensammlungen als auch in historiografische Darstellungen.{98}
Von insgesamt 25 w?rttembergischen Teilnehmern am Feldzug von 1812 sind Kriegserinnerungen in Textform ?berliefert. Interessant ist ein Blick auf das biografische Profil der Memoirenschreiber. 17 der 25 Autoren waren Offiziere. In Schwaben griffen ?berwiegend junge, zumeist zwischen 1785 und 1793 geborene Offiziere (Seconde- und Premierleutnante, Hauptleute) zur Feder und hielten ihre Erinnerungen an den franz?sischrussischen Krieg fest. Die w?rttembergischen Verfasser von Kriegsmemoiren waren mehrheitlich b?rgerlicher Herkunft, erlangten aber in der Regel — durch milit?rischen Aufstieg bzw. durch Ordensverleihung — die Nobili- tierung.{99} Mindestens 14 Autoren stammten aus Altw?rttemberg, also aus dem Gebiet des Herzogtums in den Grenzen von 1802. Die ?berw?ltigende Mehrheit der Veteranen, die Erinnerungen hinterlie?en, geh?rte der evangelischen Konfession an: Lediglich vier Personen waren katholisch. Memoiren sind in W?rttemberg von Soldaten aller Waffengattungen ?berliefert: 17 der 24 Autoren, deren Einheit bekannt ist, dienten in einer Infanterieformation (darunter zwei ?rzte), sechs bei der Kavallerie (darunter drei ?rzte), einer bei der Artillerie. Auffallend ist, dass viele w?rttembergische Autoren von Kriegserinnerungen im Lauf ihrer milit?rischen Karriere, die sie zum Teil nach 1815 fortsetzten, hohe Auszeichnungen erlangten. F?r insgesamt 15 Autoren l?sst sich eine Verleihung des w?rttembergischen Milit?rverdienstordens nachweisen, an drei ?rzte, die Erinnerungswerke verfassten, verlieh K?nig Friedrich den Zivilverdienstorden. F?nf Autoren waren Ritter, zwei sogar Offiziere der franz?sischen Ehrenlegion.
Die zeitliche Abfolge, in der die Memorialwerke der W?rttemberger ?ber den Feldzug Napoleons gegen Russland 1812 entstanden, weist ein markantes Profil auf. Insgesamt vier Erinnerungstexte wurden in den Jahren unmittelbar nach dem Sturz des franz?sischen Kaisers verfasst. Weitere Werke, insgesamt f?nf, entstanden in den ausgehenden 1820er- und in den 1830er-Jahren bzw. wurden in dieser Zeit vollendet. Die Niederschrift dieser Memoiren f?llt in eine Zeit, in der sowohl der Russlandfeldzug Napoleons als auch die sogenannten „Befreiungskriege“ in der w?rttembergischen Erinnerungskultur eine zunehmende Bedeutung erlangten: Die fr?heren Kriegsteilnehmer organisierten sich seit Mitte der 1820er-Jahre in Veteranenbruderschaften, sp?ter auch in Vereinen, 1830 und 1837 fanden Veteranentreffen statt und nicht zuletzt erschienen seit 1831 die Aquarelle und Zeichnungen von Christian Wilhelm von Faber du Faur im Druck.{100} Zu den Kriegserinnerungen, deren Niederschrift in die Zeit um 1830 fiel, z?hlt unter anderem der bedeutende Text von Heinrich von Roos, eines w?rttembergischen Arztes, der 1812 in Kriegsgefangenschaft geraten und anschlie?end in Russland verblieben war.{101} Stellten die 1830er-Jahre eine Phase intensiven Erinnerns an die Kriege der napoleonischen Zeit dar, so gilt dies weniger f?r das folgende Jahrzehnt. In den 1840er-Jahren wurde dementsprechend in W?rttemberg lediglich ein Erinnerungswerk an den Feldzug von 1812 publiziert.{102} Hingegen verfassten in den 1850er-Jahren und zu Beginn der 1860er-Jahre neun w?rttembergische Veteranen ihre Texte bzw. ?berarbeiteten in dieser Zeit fr?her erstellte Textfassungen. Die Autoren, die etwa vierzig Jahre nach dem Ende des Premier Empire ihre Memoiren zu Papier brachten, waren prim?r von einem pers?nlichen Interesse geleitet. Sie blickten nach dem Ende ihrer beruflichen Laufbahn auf einen bedeutenden Abschnitt ihres Lebens zur?ck und zielten darauf ab, ihre Erfahrungen der Nachwelt zu ?bermitteln.
?ber die Schreibpraxis der w?rttembergischen Autoren von Kriegs- memoiren liegen nur fragmentarische Informationen vor. Die meisten Veteranen des Feldzugs von 1812 d?rften ihre Darstellung auf der Grundl?ge von Aufzeichnungen verfasst haben, die sie im Feld angefertigt hatten. Diese Materialien sind in der Regel nicht ?berliefert. Bei der Ausarbeitung der — zumeist wenig detaillierten — originalen Notizen zu ausf?hrlichen Kriegsmemoiren sch?pfte die Mehrzahl der Autoren in erster Linie aus der pers?nlichen Erinnerung. In verschiedenen F?llen benutzten die Veteranen bei der Niederschrift von Memorialwerken die vorhandene historiografische Literatur, die Berichte anderer Felzugsteilnehmer sowie, in seltenen F?llen, amtliche Dokumente. Nur von wenigen Soldaten, die ?ber ihre Kriegserfahrungen in den Jahren 1812 bis 1814 berichteten, sind mindestens zwei Textzeugen erhalten; in diesen F?llen l?sst sich die Entstehung der jeweiligen Memoiren etwas konkreter nachvollziehen.{103}
Die ?berlieferten Erinnerungswerke w?rttembergischer Soldaten unterscheiden sich in Form und Inhalt stark. So beziehen sich die Memoiren auf unterschiedliche Zeitspannen. Zum Teil handelt es sich um Autobiografien, die das gesamte Leben des Autors behandeln, zum Teil wird nur ein bestimmter Lebensabschnitt, zum Beispiel die Teilnahme an einem Feldzug, thematisiert. Einige Memoiren sind als Erz?hlung, andere in der Tagebuchform der originalen Aufzeichnungen verfasst. Die subjektive Perspektive des autobiografischen Berichts ist in den Erinnerungswerken unterschiedlich stark ausgepr?gt. In einigen Werken wird sie durch eine Schilderung des allgemeinen Kriegsverlaufs erg?nzt. Grundlegend verschieden ist auch der intellektuelle Anspruch der Texte. W?hrend viele Memoiren prim?r eine Chronologie der Kriegsereignisse bieten, bem?hen sich einige Autoren erkennbar um eine gedankliche Durchdringung und Analyse ihrer individuellen Erfahrungen. Schlie?lich differiert auch das sprachlich-stilistische Niveau der Memoiren enorm.
Die gro?e Mehrzahl der w?rttembergischen Erinnerungswerke zum Feldzug von 1812 wurde ver?ffentlicht.{104} Die Publikation erfolgte dabei zum Teil zu Lebzeiten des jeweiligen Autors, zum Teil posthum. Nicht wenige Texte wurden erst viele Jahrzehnte nach ihrer Entstehung herausgegeben.{105}
Einige derjenigen Autoren, deren Aufzeichnungen zu Lebzeiten erschienen, publizierten anonym.{106}
Mehrere w?rttembergische Erinnerungswerke, die bereits im 19. Jahrhundert zum Druck gelangten, stie?en auf gro?es Interesse des Lesepublikums und erfuhren bis zum Ersten Weltkrieg mehrere Auflagen. Zu diesen Texten z?hlen die Kriegsmemoiren von Christian von Martens, Heinrich von Roos, Karl von Suckow und Christoph Ludwig von Yelin.{107} Der Text von Roos wurde 1912 ins Russische und 1913 ins Franz?sische ?bersetzt.{108} Die Erinnerungen von Suckow erschienen 1901 in franz?sischer Sprache.{109} Eine ?beraus beeindruckende Rezeptionsgeschichte wurde in j?ngerer Vergangenheit den Erinnerungen des einfachen Infanteristen Jakob Walter zuteil. Das Werk Walters, 1938 erstmals in deutscher und englischer Sprache publiziert, liegt inzwischen in sieben Sprachen im Druck vor (Deutsch, Englisch, Niederl?ndisch, D?nisch, Schwedisch, Franz?sisch, Spanisch).{110}
Более 800 000 книг и аудиокниг! 📚
Получи 2 месяца Литрес Подписки в подарок и наслаждайся неограниченным чтением
ПОЛУЧИТЬ ПОДАРОК