Eilftes Capitel.

In Wilna fand ich mit vielen W?rttembergern eine Unterkunft in einem Hause, wo wir wenigstens gegen die gr?ste K?lte gesch?tzt waren. Die Einwohner waren alle noch da. Es fehlte nicht an Lebensmitteln. Von der w?rttembergischen Kriegs-Casse erhielten wir Geld, Vorsch?sse, und die Officiere hatten ihren Sammelplatz im Lichtenstein'schen Caffeehaus. Ich versah mich mit Kappe, Handschuhen und Stiefeln von Pelz. Ich sammelte wieder einige Kr?fte, und gab den Entschlu?, in Wilna zu bleiben, auf. Meine 2. Pferde hatten sich ebenfalls wieder erholt. Die Cavallerie-Officiere sammelten sich um den General Grafen v[on] Normann, unter seiner Anf?hrung wollten wir das russische Gebiet verlassen, und hatten wir erst einmal den Niemen hinter uns, so sollte es jedem freistehen, den weiteren R?ckzug nach Gutd?nken zu verfolgen.

Der General Normann hatte, die Schwierigkeiten erw?gend, // S. 79// die mit unserem Marsche auf der gro?en Heerstra?e verbunden seyn w?rden, mit unserer Zustimmung den Entschlu? gefa?t, auf Seitenwegen nach Olitta hin zu ziehen, und zu diesem Ende hatte er einen Juden angeworben, der als Wegweiser dienen sollte. Eben darum aber, weil wir nicht mit der grosen Masse der Fl?chtlinge ziehen wollten, hatten wir unsern Abmarsch von Wilna so lange als m?glich verschoben, und verlie?en diese Stadt erst am 9. Dec[em]b[e]r Vormittags, wenige Stunden vor der Ankunft der Russen. Unser Weg f?hrte meistens durch Waldungen auf ungebahnten Strassen, durch wenige D?rfer, deren Einwohner alle noch da waren, und uns mit Nahrungsmitteln versahen. Zweimal ?bernachteten wir und am dritten Tage Mittags erreichten wir ohne irgend einen Unfall das St?dtchen Olitta, am Ufer des Niemen gelegen. Hier st?rkten wir uns mit einem t?chtigen Glase Schnaps, und zogen denn feierlich ?ber den gefrorenen Flu? mit Empfindungen des Dankes f?r unsere Rettung. So hatten wir uns114 als wir wenige Monate vorher diesen Flu? mit den gr?sten Erwartungen ?berschritten, die R?ckkehr nicht gedacht, aber es war uns gut, da? wir davon nicht die leiseste Ahnung hatten, denn wer h?tte Geistesst?rke genug gehabt, solchem Ungemach, wie wir es so eben erduldet hatten, entgegen zu gehen? — Auf dem diesseitigen Ufer des Niemen, schon im Herzogthum Warschau, liegt ein D?rfchen, das uns recht ertr?gliche Quartiere bot, aber der K?lte und unserer Entkr?ftung nicht achtend, eilten wir, uns von dem ungl?ckseligen // S. 80// Flusse zu entfernen, der die Reihe unserer Leiden er?ffnet hatte. Noch am n?mlichen Tage giengen wir bis Lieziskelli und an den zwey folgenden Tagen durch Szemno nach Kalvary, wo sich die Gesellschaft trennte, und jeder den Weg einschlug, auf dem er am schnellsten und besten fortzukommen hoffte.

Ehe ich aber weiter gehe, und meine R?ckreise ins Vaterland erz?hle, will ich noch einen Blick zur?ckwerfen auf den R?ckzug aus Ru?land, und ein allgemeines Gem?lde desselben zu geben versuchen, denn von jetzt an z?hle ich mich nicht mehr als ein Mitglied der grosen Armee, ich habe von ihr nichts mehr zu sagen, nur allein von mir als einem einzelnen Reisenden zu reden. Das Gem?lde des R?ckzuges will ich aber so geben, wie ich es mit meinen eigenen Augen gesehen habe, nur Thatsachen will ich schildern, deren Augen- oder Ohrenzeuge ich selbst war, und nur weniges will ich anf?hren, das ich von andern, jedoch glaubw?rdigen Personen geh?rt habe.

Mit dem Abmarsch des Kaisers von Moskau beginnt der R?ckzug. Dort fieng die Aufl?sung der Armee an; viele Regimenter hatte beinahe alle ihre Mannschaft, die Cavallerie, Artillerie, der [sic!] Train, ihre Pferde verloren.

Es fehlte an Magazinen, jeder war sich selbst ?berlassen, mu?te selbst f?r seinen Unterhalt sorgen. Als die Armee Moskau verlie?, h?tte sie durch die indessen Genesenen wieder bedeutend st?rker // S. 81// seyn sollen, statt dessen war sie um vieles schw?cher geworden. Einige mehr oder weniger bedeutende — meistens ungl?ckliche{679} Gefechte reichten hin, die Aufl?sung allgemein zu machen. Bey Dorogobusz stiessen die ersten Fl?chtlinge zu uns. Sie waren alle in Moskau gewesen, dort hatten sie gepl?ndert, dort hatten sie mitgenommen, was mitzunehmen war. Wir waren erstaunt ?ber ihren Aufzug. Wenige waren ohne Waffen, die meisten nur mit Einem Waffenst?ck versehen, und war es auch ein Schie?gewehr, so war es entweder unbrauchbar, oder fehlte dem Besitzer die Munition. Es waren keine Soldaten mehr, nur Marodeurs und Traineurs{680}, ohne alle Disciplin, mit einzelnen Monti- rungsst?cken{681} beh?ngen, aber reichlich bepackt mit wollenen T?chern, Leinwand, seidenen Zeugen aller Art und Farben, Pelzen von Herren und Damen, Schl?pfern, Paladinen{682}, Kr?gen, M?nteln vom Zobelpelz herab, bis zum Schaafpelz, H?ten, Kappen und M?tzen von allen Formen, Schuhen, Stiefeln, Stutzen und Reiterm?nteln, K?chenger?th von Kupfer, Messing, Eisen, Blech, von jeder Form, Haushaltungsgegenst?nden, wie L?ffel, Gabeln, Messer von Silber, Blech und Eisen, zinnernen Tellern und Sch?sseln, Gl?sern und Bechern, Scheeren, Nadeln, Faden, Wachs p.p., kurz mit allen Gegenst?nden, die der Reisende zu Fu? und zu Wagen, der Handwerker, der K?nstler, nur immer bedarf. Manche erschienen zu Fu?, und hatten ihre Beute schon verloren, oder weggeworfen, viele kamen zu Pferde, meistens // S. 82// auf elenden russischen Bauerpferden, andere auf Wagen, Troschken, in Chaisen{683} aller Art, in Staatskarossen. Mancher gemeine Soldat hatte zu seiner und der Bedienung seiner Pferde, zu Besorgung seiner 2. 3. 4. Chaisen und Karossen, andere gemeine Soldaten als Bediente angenommen. Die? war der Aufzug, in dem sich uns die ersten Fl?chtlinge zeigten. Diesen folgte t?glich eine gr?sere Zahl. Mit diesem Volke, das sich seiner und seiner Leute Sicherheit wegen, an unser Detaschement angeschlossen hatte, zogen wir weiter. Alle Subordination120 hatte aufgeh?rt. Wenn Feinde sich zeigten, so dr?ngten sich die Elenden, wie Schaafe vor dem Wolfe, in einem Haufen zusammen, und ?berlie?en die Gegenwehr uns und andern, die noch nicht alles Ehrgef?hl abgelegt hatten. War aber

der Feind wieder aus dem Gesicht verschwunden, so waren sie die vordersten und lautesten, und waren irgendwo Lebensmittel zu finden, so waren sie es, die solche den Bewaffneten, ihren Besch?tzern, weghaschten. Je weiter aber der R?ckzug sich fortsetzte, desto mehr Truppen l?sten sich auf, desto gr??er war die Zahl jener Ungl?cklichen. T?glich ersch?pften sich viele durch die m?hsame Fortbringung ihrer Beute, t?glich blieben viele zur?ck, und fielen selbst als Beute in die H?nde der Russen. Andere Kl?gere warfen bey Zeiten den Raub weg, lie?en Kutschen und Wagen stehen, und suchten sich Waffen zu verschaffen. Lebensmittel hatten die wenigsten mitgebracht, nur um Geld und Geldeswerth drehte sich ihr Sinn, daher // S. 83// je weiter wir zogen, desto schwerer fanden wir unsern Unterhalt. Viele lebten von Zucker, und wenn dieser aufgezehrt war, von Pferdefleisch, oder Fleisch von gefallenem, zum Theil schon verwesendem Vieh. In einem Dorfe sah ich Franzosen, wie sie Vieh, das wahrscheinlich an einer Seuche gestorben war, aus einem Loche ausgruben, ?ber dem Feuer r?steten, und mit gr?stem Appetit verzehrten. Alle diese Drangsale vermehrte und erh?hte der Frost, der am 8. Nov[em]b[e]r eintrat. Nun wurden die eingepackten Kleidungsst?cke hervorgezogen, und der ganze Zug glich einer Masquerade. Der Weg war ganz abgegl?ttet. M?hsam schleppte sich der Fu?g?nger auf dem schl?pfrigen Boden fort, m?hsam giengen die Pferde, die l?ngst beschlaglos waren. In jedem Defilee entstand die entsetzlichste Verwirrung. Hunderte von W?gen h?uften sich, jeder suchte dem andern vorzufahren, keiner wollte Zur?ckbleiben, die armen Pferde wurden gr??lich mi?handelt, ein, zwey, drey und mehrere Defileen ?berwanden sie gl?cklich, endlich blieben sie stecken, und vermochten die Last nicht mehr herauszuziehen. Die W?gen, die nicht weiter gebracht werden konnten, wurden umgest?rzt, zertr?mmert, verbrannt, die Effecten gepl?ndert, die Kanonen, wo m?glich, ins Wasser versenkt, oft vernagelt, zulezt gerade zu121 stehen gelassen. Der Cavallerist trieb sein Konji mit dem Sattel beladen, mit der Beute beh?ngt vor sich her, endlich blieb es stehen oder liegen, und nun diente es seinem Herrn noch zur Nahrung. Die Kraftlosen suchten irgend ein Feuer, ein Haus zu erreichen, // S. 84// und wenn sie sich etwas erholt hatten, und wieder weiter zu gehen vermochten, so wurde das Haus, um sich zuvor noch zu w?rmen, angez?ndet, oder thaten die? andere, die sich w?hrend des Marsches eine halbe Stunde lang w?rmen wollten. Das NachtQuartier suchte man wo m?glich in D?rfern zu nehmen. Jedes Haus mu?te der Ungl?cklichen so viele aufnehmen, als der Raum gestattete, aber noch weit mehrere brachten die Nacht unter freiem Himmel zu, und z?ndeten oft, theils um sich zu w?rmen, theils

aus Neid gegen ihre Kameraden das Obdach an, in dem sich leztere befanden, w?hrend diese das brennende Haus oft nicht verlassen wollten, sondern lieber aus Furcht zu erfrieren mit verbrannten. Solche Vorf?lle wurden bald bekannt, und hatten zur Folge, da? der St?rkere immer dem St?rkeren sich anschlo?, da? derselbe den Schw?cheren aus den Wohnungen vertrieb, Schildwachen gegen diese, als gegen Feinde, ausstellte, da? oft um den kurzen Besitz eines Hauses lange Schl?gereien, Mord und Todtschlag entstanden. Die Schw?cheren, gen?thigt, unter freiem Himmel zu campiren, suchten Holz zum Feuer zusammen, brachten, wo die St?rkeren nicht auf ihrer Hut waren, einzelne Theile der H?user weg, deckten die Strohd?cher ab, stahlen die Pferde, die Bagage ihrer Kameraden. Oft aber, sehr oft, vermochten sich diese Ungl?cklichen nicht mehr bis in die N?he von Wohnungen zu schleppen, sondern blieben auf dem n?chsten besten Platz liegen, und giengen da in der Nacht zu Grunde, oder wenn sie so gl?cklich gewesen waren, irgend // S. 85// ein verlassenes Feuer zu erreichen, so lagerten sie sich um dasselbe herum, und wurden, zu kraftlos, um Holz herbey zu bringen, und das Feuer zu unterhalten, des andern Morgens todt gefunden. Diese Leichen, fest gefroren, am Morgen von dem ersten Vor?berziehenden ausgepl?ndert, dienten dann als Sitze f?r die Nachkommenden, die stehen gebliebene W?gen zusammenschlugen, oder bespannte W?gen mit Gewalt Wegnahmen, und sich davon Feuer anz?ndeten. Viele schleppten sich schon halb todt an Feuer hin, streckten die Glieder, um recht bald zu erw?rmen, in die Glut, und starben halb erfroren, halb verbrannt. Je l?nger der R?ckzug w?hrte, desto gr?slicher war der Anblick der Fl?chtlinge. In der furchtbarsten K?lte sah man Einzelne ohne Mantel, ohne Pelz, in leichten Fr?cken, mit Nankinhosen{684} daherziehen, sah, wie der Frost auf sie wirkte, wie ihre Glieder nach und nach erstarrten, wie sie niederst?rzten, sich wieder aufrafften, wieder st?rzten, um nicht mehr aufzustehen. Der Mangel einer guten und zweckm?sigen Fu?bekleidung kostete Unz?hligen das Leben. Bey manchen waren durch die zerrissenen Schuhe oder Stiefel die nackten Zehen sichtbar, anfangs blutroth, dann erfroren — dunkelblau oder braun, endlich schwarz. Andere hatten die F?sse mit Lumpen, mit Lederst?cken, Bast, Schaaf- oder anderen Fellen umwickelt, und diese retteten ihre Fu?zehen, wofern sie wieder anderes Material zum Einwickeln f?r das durchgetretene fanden. Unz?hlige{685}, die so gl?cklich waren, ihr Leben durchzubringen, erfroren H?nde, F?sse, Nasen, Ohren, sehr vielen fielen // S. 86// Finger, Zehen ab, anderen mussten dieselben, oft der ganze Arm oder Fu? abge nommen werden. Wie die K?lte Verheerungen anrichtete, ebenso that es der Hunger. Kein Nahrungsmittel war so schlecht, da? es nicht seine Liebhaber gefunden h?tte. Kein gefallenes Pferd oder Vieh wurde verschm?ht, kein Hund, keine Katze, ?berhaupt kein Aas, selbst Menschenfleisch, die Leichname der Erfrorenen und Verhungerten dienten oft den Uebrigen zur Nahrung. Es geschah sogar, da? Menschen zu Stillung des Hungers den eigenen K?rper, H?nde und Arme benagten. Aber nicht allein der physische Mensch litt das Uns?glichste, auch der geistige war von der K?lte in Verbindung mit dem Hunger angegriffen. Alles menschliche Gef?hl war erstorben, jeder dachte und sorgte nur f?r sich, der Zustand seines Kameraden k?mmerte ihn nicht. Gleichg?ltig sah er ihn todt niederst?rzen, gef?hllos nahm er auf seiner Leiche an dem Feuer Platz. Dumpfe Verzweiflung, tobender Wahnsinn hatte viele ergriffen, unter den gr?sten Verw?nschungen gegen Himmel und Erde hauchten sie ihren Geist aus. Andere waren zu Kindern geworden, und giengen darum zu Grunde, wenn vielleicht ihre physischen Kr?fte sie wohl h?tten retten m?gen. Wieder andere starrten in einem Stumpfsinn dahin, der sie das Rettungsmittel ?bersehen lie?, und gerade dem Untergang entgegen f?hrte. Alle aber hatten wohl an ihrer geistigen Kraft — wenigstens f?r einige Zeit — Schaden genommen, und bey den // S. 87// meisten offenbarte sich die? durch Gleichg?ltigkeit und Stumpfsinn. Der Soldat nannte es den Moskauer Tippei.{686}

Indem ich dieses Gem?lde schliesse, habe ich nur noch beizuf?gen, da? ich darin keine zu grellen Farben gebraucht, da? ich die reine lautere Wahrheit gesagt, und da? ich ?brigens bis jetzt, wo ich die? schreibe, im Jahr 1828. in allen Schilderungen des R?ckzugs, die mir vor Augen kamen, noch keine Uebertreibungen gefunden habe, ja da? ich ?berzeugt bin von der Unm?glichkeit, das Elend der Fl?chtlinge gr??licher zu malen, als es in der Wirklichkeit war.

Ich brauche nun wohl nicht mehr zu sagen, wie freudig unsere Empfindungen waren, als wir den Schauplatz unseres Ungl?cks, unseres Elendes verlassen hatten, und beginne daher, meine R?ckreise ins Vaterland zu erz?hlen.